PRESSE
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Johannes-Passion von Johann Sebastian Bach, Opernhaus Wuppertal
Wuppertaler Rundschau, 28.5.2015 (Stefan Schmöe)
Erlösung lässt auf sich warten
Der österreichische Regisseur Philipp Harnoncourt inszeniert in Wuppertal Johann Sebastian Bachs "Johannespassion"
als Leidensgeschichte von Flüchtlingen. Jesus tritt als Bühnenfigur überhaupt nicht auf, die ihm zugewiesenen
Passagen der Musik werden von verschiedenen Akteuren übernommen. Wer dieser Jesus ist, bleibt offen und ist für jeden
anders zu beantworten. Der christliche Erlösungsaspekt scheint denkbar fern.
Das ist natürlich ein anderer Ansatz als der von Bach, aber genau das rechtfertigt es, das Stück auf die Bühne zu stellen:
Das Theater hinterfragt die musikalisch-christliche Botschaft im aktuellen (das heißt hier auch: multikulturellen)
Kontext. Harnoncourt bebildert nicht die Musik, sondern setzt ihr eine lockere Szenenfolge ohne klare Handlung
entgegen. Er zeigt Menschen, deren Leben von Religion geprägt ist, aber auch die Demütigung von Flüchtlingen als
vermeintliche "Scheinasylanten". Insgesamt gelingt das doch sehr eindrucksvoll und gleitet nur selten ins Plakative ab.
In diesem Kontext wird Bachs Komposition aus der "schöne-Musik-Ecke" herausgeholt und klingt überraschend neu.
Dirigent Jörg Halubek interpretiert das Werk mit viel Sinn für Bühnendramatik aus dem Blickwinkel der Barockoper, mit
kammermusikalisch klarem, sehr beweglichem Klang und vibrierender Nervosität, und das eigentlich eher im
romantischen Genre beheimatete Wuppertaler Sinfonieorchester setzt das überraschend gut um. Großartig singt der
von Jens Bingert perfekt einstudierte Opernchor, mit nur 25 Sängerinnen und Sängern klein besetzt, ungeheuer präzise
und aufmerksam und mit ganz hervorragend ausgewogener Balance zwischen den einzelnen Stimmen. Dazu gesellt
sich ein ordentliches Solistenensemble (Laura Demjan, Sopran; Lucie Ceralová, Alt; Johannes Grau, Tenor; Falko
Hönisch, Peter Paul und Jan Szurgot, Bass). In der schwierigen Partie des Evangelisten schlägt sich Emilio Pons trotz
ein paar heikler Momente wacker.
Wenn der abschließende Choral mit der Schlusszeile "Dich will ich preisen ewiglich" nicht vom Chor, sondern wie
beiläufig vom Solistenquartett gesungen wird, dann ist längst klar, welche historische, politische und auch theologische
Brisanz gerade heute in dieser "Johannespassion" steckt.
Westdeutsche Zeitung, 27.5.2015 (Hartmut Sassenhausen)
Gehaltvollste Produktion der Spielzeit
der neue Merker, 24.5 2015 (Christoph Zimmermann)
Die letzte Produktion der Spielzeit, Johann Sebastian Bachs Johannes-Passion, war mit vier Attacca-Vorstellungen
ins Pfingst-Wochenende platziert, mussten also als Selbstläufer fungieren, denn Kritiken standen ja erst nach Fallen des
letzten Vorhangs zu erwarten. Dabei handelte es sich um ein besonders ehrgeiziges Projekt, sowohl musikalisch-
szenisch wie auch soziologisch.
Mit Jörg Halubek war ein Dirigent der historisch informierten Aufführungspraxis zur Stelle, dessen Aktivität im Bereich
Musiktheater beim Staatstheater Kassel ein Zentrum gefunden hat. Bachs Johannes-Passion führte er in der Stuttgarter
Liederhalle im vergangenen Oktober konzertant mit Il Gusto Barocco auf. Jetzt erarbeitete er mit dem Sinfonieorchester
Wuppertal, ergänzt durch Gäste für Theorbe, Viola da gamba und Orgel, eine individuelle Fassung. Das Klangergebnis
geriet absolut überzeugend, der musikalische Duktus war lebendig und trug auch den vielen dramatischen Explosionen
der Partitur (was hat Bach da kompositorisch nicht alles gewagt?) mustergültig Rechnung. Der Chor des Hauses (Jens
Bingert) ergänzte die günstigen Eindrücke.
Für die Wuppertaler Johannes-Passion zeichnete Philipp Harnoncourt verantwortlich… Harnoncourt verzichtete darauf,
Jesus in persona auf die Bühne zu bringen, wollte ihn vielmehr als „Frage formulieren“ und quasi archetypisierend mit
einer „Passion des Menschen“ in Beziehung setzen. Immerhin ging es in der Aufführung um Flüchtlinge und Migranten,
die in einer biografischen Materialsammlung des Programmheftes Beklemmendes über ihre Odysseen berichteten.
Einige aus dem Raum Wuppertal waren auf der von Wilfried Buchholz sinnfällig nüchtern ausgestatteten Bühne zu
sehen, versinnbildlichten die Jesus-Figur, der in Harnoncourts Augen übrigens ein durchaus kämpferischer Außenseiter
war. Der Regisseur schilderte Hass, Missgunst und Intoleranz in eindringlichen Bildern, wobei der zweite Teil des Abend
die stärkeren Akzente setzte. Eine Tenor-Arie auf zwei Sänger zu verteilen (hier gewalttätige Feindseligkeit, dort
Versöhnungsbereitschaft) machte, weil ohne plakativen Nachdruck, besonderen Eindruck. Auch das gemeinsame Essen
der Akteure am Schluss (vielleicht war eine Assoziation mit dem Abendmahl im Spiel) unterstrich einen Satz, der
irgendwo fiel: „Auch der Traum wohnt noch in unserer Mitte.“
Herausragend Emilio Pons mit seinem beweglichen, höhensicheren und artikulationsklaren Evangelisten-Tenor. Die
helle Stimme der Nachwuchssopranistin Laura Dmjan gefiel sehr, Lucie Cralová beeindruckte besonders nachhaltig mit
der Arie „Es ist vollbracht“. Sehr überzeugend auch die Baritone Falko Hnisch und Peter Paul.
Der eindrucksvoll crescendierende Abend wurde mit heftigen Akklamationen bedacht, Zeichen dafür, dass ihre
Botschaft als brisant empfunden wurde.
OnlineMusikMagazin, 23.5.2015 (Thomas Molke)
Flüchtlingsproblematik als Leidensweg Christi
… hat man sich nun auch in Wuppertal entschieden, zum Ende einer
Spielzeit, die vom absoluten Standardrepertoire geprägt war, mit der szenischen Aufführung dieses neben Bachs
Matthäus-Passion berühmtesten Chorwerkes etwas Außergewöhnliches zu präsentieren. Da es keine vollständig
erhaltene Partitur gibt, hat Jörg Halubek, der musikalische Leiter, aus den vier unvollständig erhaltenen Varianten eine
eigene Fassung erstellt.
… Philipp Harnoncourt entscheidet sich in seiner Inszenierung, die Handlung in die Gegenwart zu verlegen. So lässt er
Jesus als Figur nicht auftreten, sondern verbindet stattdessen seinen Leidensweg mit den Erlebnissen heutiger
Asylanten. Deshalb hat er Flüchtlinge, Migranten und ihre Angehörige als Statisten ins Spiel einbezogen, die ihre
Erfahrungen eingebracht haben und somit Parallelen zur damaligen Geschichte herstellen. Wenn im Text beispielsweise
davon die Rede ist, dass Jesus unter Folter zu einem Bekenntnis gezwungen werden soll, werden vier Männer zunächst
mit Stöcken geschlagen, während auf einer weißen Plane im Hintergrund rote Farbe das vergossene Blut
versinnbildlicht. Wenn die Männer dann noch mit einer Schweinsnase und Schildern ausgestattet werden, die sie als
"Scheinasylanten", "Drogendealer" oder "Integrationsverweigerer" abstempeln, erinnert diese Szene in schrecklichen
Bildern an aktuell aufgedeckte Verhörmethoden. Teilweise werden dabei auch einzelne Sätze, die im Oratorium Jesus
zugeordnet sind, von diesen Statisten gesprochen. Der Chor schlüpft dabei in verschiedene Rollen. Zum einen
übernehmen einzelne Choristen kleine Solo-Partien, zum anderen stellen sie in modernen Kostümen von Wilfried
Buchholz eine bedrohliche Masse dar, die den Flüchtlingen gegenüber auch aufgrund eigener Existenzängste eine
feindliche Haltung einnehmen.
Auf der Bühne, für die ebenfalls Buchholz verantwortlich zeichnet, steht ein riesiger dreckiger Sandkasten, den der
Chor als eigenen Lebensraum behalten will. Darin befindet sich ein von Planen umgebener Raum, der vor der
Videoprojektion einer zerbombten Stadt gewissermaßen ein Refugium darstellt, das dann aber von einer
herabgelassenen Wand zerstört wird. Wenn dann nach der Kreuzigung auf diese Wand in großen schwarzen Lettern
"Gott ist todt. Wir haben ihn getödtet" geschrieben wird, lässt sich dies in zweifacher Hinsicht deuten. Zum einen mag
hier auf das berühmte Nietzsche-Zitat angespielt werden, zum anderen irritiert aber auch
die Rechtschreibung. Ist hier neben dem Adjektiv "tot" auch das Substantiv "Tod" gemeint, das die göttliche Existenz
nicht in Frage stellt, sondern die Glaubenskriege anspricht, die in Gottes Namen geführt werden und für viele Menschen
den Tod bedeuten? Die hochgefahrene Bühne, auf der Pilatus sein Verhör durchführt, passt jedenfalls als
"Folterkammer" genau in dieses Bild.
… Musikalisch kommt dem von Jens Bingert einstudierten Wuppertaler Opernchor in dieser Produktion neben dem
Sinfonieorchester Wuppertal die bedeutendste Funktion zu. Wirkt der Chor beim Auftrittschoral "Herr, unser Herrscher,
dessen Ruhm" noch etwas leise, steigert er sich im Laufe des Abends und überzeugt vor allem im zweiten Teil als
bedrohliche Masse und aufgeregter Mob, der Pilatus dazu bringt, gegen seine eigenen Überzeugungen zu handeln. Jörg
Halubek lotet mit dem Sinfonieorchester Wuppertal die vielschichtige Partitur differenziert aus und sorgt für
musikalischen Hochgenuss… alle werden mit frenetischem Applaus gefeiert. Vielleicht will das Wuppertaler Publikum
seine Dankbarkeit darüber zum Ausdruck bringen, dass auch einmal etwas Ungewöhnliches auf dem Spielplan steht.
Fazit – Philipp Harnoncourts Ansatz für eine szenische Umsetzung der Johannes-Passion bleibt in großen Teilen nachvollziehbar. Chor und Orchester machen eine sehr gute Figur.
Wuppertaler Rundschau, 1.7.2015 (Stefan Schmöe)
Und zum Saisonabschluss gelang dann unerwartet noch ein besonderer Coup mit Bachs
"Johannespassion" in einer nachdenklich stimmenden, sehr aktuellen szenischen Deutung von Philipp
Harnoncourt und dem hauseigenen Opernchor als überragendem Hauptdarsteller.