PRESSE
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Rodelinda, Regina di Longobardi von G. F. Händel, Theater an der Wien
Musik & Theater(Monika Mertl), Mai 2011
Familienaufstellung mit Händel
F.A.Z. (Dirk Schümer), 23. 3. 2011
Wiener Erleuchtung
So hat sich Händel seine Arien vorgestellt
Nikolaus Harnoncourt dirigiert, sein Sohn Philipp inszeniert die Barockoper "Rodelinda" im Theater an der Wien. Dabei wird die Völkerwanderung des Vormittelalters
zum Migrationsszenario von heute. Händels Musik sorgt für Momente der Innigkeit.
Völkerwanderung - man muss nur die Tagesnachrichten durchgehen, um an der Wörterbuchbedeutung des Begriffs zu zweifeln. Diese Epoche mit allen Grausamkeiten, Ängsten, Erschütterungen war nicht irgendwann bis 800; Völkerwanderung ist heute. Genau so übersetzt Philipp Harnoncourt am Theater an der Wien Händels Barockoper "Rodelinda" in Bilder: Das Geschehen um die langobardischen, in Italien eingefallenen Wüteriche des Vormittelalters spielt jetzt im frischen Neomittelalter einer verwüsteten Vorstadt, die irgendwo in Moskau oder Medellín, am ehesten wohl in Neapel stehen könnte. In halbfertigen Betonskeletten richten sich Gangsterclans einigermaßen wohnlich ein. Während unten bewaffnete Bodyguards, Kinderhuren und hohläugige Pusher beim Dosenbier ins Fernsehflimmern starren, kämpfen in der kitschig möblierten Chefetage die Bosse und ihre aufgetakelten Bräute um die Macht im Revier. Und nur Händels Musik sorgt inmitten des Horrors für ein paar Momente der Innigkeit.
Die von Piranesi, vielleicht auch direkt von Roberto Savianos "Gomorrha"-Verfilmung inspirierte Endzeitszenerie mit finsteren Treppen, Abdächern, Kellerluken (Ausstattung: Herbert Murauer) eignet sich bestens als Biotop bissiger Fieslinge, wie Händels Textbearbeiter Niccolò Haym dies bereits mit einer Versuchsanordnung sinistrer Killer und erotischer Kampfmaschinen vorgegeben hatte.
Wie die sitzengelassene Eduige - von der schwedischen Altistin Malena Ernman stimmlich verführerisch und darstellerisch voll wild-erotischer Verzweiflung verkörpert - den Bösewicht Garibaldo (mit agilem Bariton: Konstantin Wolff) bei rasenden Koloraturen auf einer Leopardensteppdecke orgiastisch zur Strecke bringt -, diesen eiskalten Quickie könnte auch ein Quentin Tarantino schwerlich rasanter inszenieren.
Nun handelt die Barockoper nicht nur von machtgeilen Aristokraten und ihren netzbestrumpften Mätressen, sondern besingt in immer neuen Abwandlungen, wie sich unter solch sozialdarwinistischen Bedingungen überhaupt überleben lässt: mit Selbstkontrolle, Edelmut, Stoizismus und disparater Hingabe an die metaphysische Schönheit der Musik, die ja nicht in der freudlosen Bühnenwelt, sondern aus dem Jenseitsgraben des Orchesters erklingt.
Vater Nikolaus Harnoncourt am Pult weiß wie kaum ein Zweiter seines Fachs um die himmlischen Bögen in Händels langsamen Arien, die eigentlich Zeitlupentänze von Hypnotisierten darstellen. Mit genauem Gespür für das Zeitmaß der Affektmusik, lenkt der Meister seinen Concentus Musicus durch die Partitur. Immer wieder an den entscheidenden Stellen gibt er Gas, feuert die Furien an, um Solisten wie Ensemble mit einem winzigen Fingerzeig wieder ruhigzustellen.
Im Ganzen klingt Harnoncourts Historikklang vielleicht etwas zu streicherlastig, kann eine einzige Theorbenlaute neben dem Cembalo den fetzigen Händel-Rhythmus
nicht immer gegen die Kantilenen behaupten. Doch vor allem an Sängern wie dem fabelhaften Kurt Streit merkt man, wie akkurat hier gearbeitet wurde. Der Tenor bringt die heiklen
Läufe und seltenen Fermaten des gehetzten Mafiapaten Grimoaldo derart sicher und wohlklingend über die Bühne, dass hinter der Maske des Gangsters tatsächlich ein liebender Mensch
hörbar wird.
Die emotionale Blöße, die er sich besser nicht gegeben hätte, heißt Rodelinda. Die junge australische Sopranistin Danielle de Niese vermag es auf hohen Hacken, mit
Riesensonnenbrille und spitzenunterlegtem Dekolleté blendend, das begehrteste Zuckerpüppchen im Camorrarevier zu verkörpern - eine veritable Penelope Cruz der Barockmusik.
Bejun Mehta ist derzeit wohl das Nonplusultra unter den Countertenören. Plätschert der Held mit den Füßen in einem Plastikpool und singt innig von Bächen und Gewässern, dann verschwindet angesichts von Mehtas beseelten Schwelltönen, seiner glockenreinen Intonation und seiner stupenden Koloraturenkreativität alle Hässlichkeit der Szenerie.
So, das Diesseits transzendierend, hat Händel seine Opernarien gewollt: Selbst noch furchtbar ausgeleuchtet von grellen Neonflutern im Knast, lässt Mehta seinen Helden nicht im Licht ertrinken, sondern singt sich hochkonzentriert in die Freiheit. Dafür gab es berechtigte Ovationen, ebenso wie für alle Musiker.
Das obligatorische lieto fine, das die barocke Weltordnung per Paukenschlag wieder herstellt und uns nachrichtensüchtigen Jammertälern nie so recht einleuchten will, dirigierte Harnoncourt Père dann von der Bühne in den Jubel hinein: weniger massig als der alte Händel, doch mit wildem Augenrollen, Hüftschwung und ausgelassenstem Tempo. Alles wird gut - bis zur nächsten Migration.
OnlineMusikMagazin, (Christoph Wurzel), 26.03.2011
Szenisch ganz in der Gegenwart verortet, musikalisch aus dem Geist und mit dem Wissen der Tradition gestaltet.
Eine faszinierende Kombination aus Alt und Neu
… als grausames Spiel der Zerstörung familiärer Geborgenheit hat Philipp Harnoncourt diese Oper inszeniert. So ist der Raum ein in allen Dimensionen offener Kubus aus Pfeilern,
Treppen und Ebenen, der auf der Drehbühne immer wieder neue Perspektiven eröffnet. Nirgendwo sind Schutz und Geborgenheit möglich. Zu ihrer Auftrittsarie, in der sie ihre Verlassenheit
und ihren Protest ausdrückt, bleibt der vom Feind bedrängten Rodelinda nur, sich in den Kleiderschrank zu verkriechen. Ein Gegenbild zu der zerstörten Familie Rodelindas,
Bertaridos und ihres Sohnes Flavio wird immer wieder in Gestalt von Unulfos intakter Familie vorgeführt, freilich bisweilen mit einem Gran Ironie gewürzt. In starkem Kontrast
dazu sind die Eindringlinge, Grimoaldo mit seinen brutalen Bodygards, gezeichnet. Ohne vordergründige Parallelen zu ziehen ist dennoch ein packendes Gegenwartsdrama gelungen –
nicht zuletzt auch dank einer subtilen Personenführung und intensiver darstellerischer Kraft. Das auch in dieser Oper trotz erschütternder Verwicklungen unvermeintliche
lieto fine wird auch vom Publikum regelrecht ersehnt
Entspannung mit echt kathartischer Wirkung.
Deutschlandfunk, (Frieder Reininghaus), 21.03.2011
In der "Rodelinda"-Fassung von Nikolaus und Philipp Harnoncourt gesellt sich eine Theaterhandlung zu der bemerkenswert jugendfrisch und spannungsreich revitalisierten Musik.
Einer kleinen radikalen Minderheit, der bei Opernaufführungen Plot und Text nicht ganz gleichgültig ist, möchte sich jedenfalls die Frage nach Sinn und Relevanz der "Rodelinda"-Handlung aufgedrängt haben (oder als Vorbehalt mit auf den Weg gegangen sein). Aber sie wurde im Theater an der Wien rasch eines Besseren belehrt: Zur bemerkenswert jugendfrisch und spannungsreich revitalisierten Musik gesellte sich eine Theaterhandlung, die die Zuseher zunehmend in ihren Bann zog.
Herbert Murauer hatte ein funktionales drehbares Betongerippe bauen lassen, dessen Einzelteile mobil eingesetzt werden können: In den einzelnen Ecken der zwei Etagen, die durch Treppen verbunden sind, stehen Utensilien wie Schminktisch und Kleiderschrank, Zimmerpalme oder Plastikplanschbecken, um die herum sich jeweils die einzelnen Szenen entwickeln und auf die sich der Blick fokussiert. Insgesamt zeigt sich da keine Herrschaftsarchitektur, eher ein Rahmen für die Gleichzeitigkeit von behaglichem Design und Unwirtlichkeit im mittelständischen Leben der Gegenwart.
Doch vom zynischen Umgang mit Macht und Begehren, wie es Kurt Streit als Usurpator Grimoaldo virtuos verkörpert und kraftvoll aussingt, hebt sich die Klage der um Thron und Mann gebrachten Rodelinda scharf ab: Die australisch-amerikanische Sopranistin Danielle de Niese betört nicht nur durch die Makellosigkeit ihrer Stimmführung, sondern erscheint in der exaltiert theatralischen Trauer wie eine Mischung aus Maria Callas und der jungen Gina Lollobrigida. Und Bejun Mehta, der vertriebene und tot geglaubte, aber ins Leben und an die Macht zurückkehrende rechtmäßige Regent, verfügt in Augenblicken des Zweifels über ein beglückend leicht u nd scheinbar ohne Anstrengung bedientes Sopran-Register. Mehta vermag die Momente der Raserei auszukosten, repräsentiert zugleich Liebe und Güte mit höchstem technischen Geschick.
Nikolaus Harnoncourt animiert den Concentus Musicus, den er in Wien vor mehr als einem halben Jahrhundert ins Leben rief: Der 81-Jährige Dirigent setzt allemal Anfangszeichen, zieht sich dann auf die Position des aufmerksamen Beobachters zurück, der nur zum Herausprozessieren des heftigsten Espressivo wieder eingreift. Die Arbeitsweise Harnoncourts entlarvt, wie viel Sinn- und Zweckentfremdung bei anderen Kapellmeistern im Spiel ist. Von der Anpassungsfähigkeit des Vaters hat der Sohn Philipp Harnoncourt geerbt: Seine Inszenierung verhehlt keineswegs, dass er bei Martin Kusej, Philipp Stölzl oder auch Michael Haneke aufmerksam zugeschaut hat. Aber Musiktheaterregie ist nun eben eine angewandte Kunst. Und im Fall der Rodelinda gingen alle Rechnungen auf: die Übertragung des Plots aus der Zeit kurz nach der letzten großen Völkerwanderung ins Italien der Gegenwart funktioniert so gut wie die mit dem Willen zur machtvollen Klangrede vorgetragene Musik.
Die Presse (Walter Weidringer), 22.03.2011
Händel in guter Hand
Händels "Rodelinda" im düsteren Mafia-Ambiente. Ein langer, dabei allerdings nie langweiliger Abend im Theater an der Wien.
Mit einem verbindlichen "Entschuldigung!" beschwichtigt Bejun Mehta den Herrn am Pult, wenn er in der Rolle des Bertarido bei einer unterirdischen Flucht mit großem Getöse in den Orchestergraben durchbricht und unter Szenenapplaus wieder auf die Bühne klettert. Das Premierenpublikum zeigte sich über den ironischen Bruch der Theaterillusion erheitert.
Denn etwas Auflockerung konnten viele wohl gut gebrauchen an diesem über dreieinhalb Stunden langen, dabei jedoch nie langweiligen Abend. Die Story der standhaften Langobardenkönigin Rodelinda, die sich den Avancen des verliebten Usurpators Grimoaldo widersetzt, ohne zu wissen, dass ihr Gatte Bertarido ohnehin noch lebt, erzählt Regisseur Philipp Harnoncourt als große Familiengeschichte: Die Familie als mafioser Betrieb unserer Tage, der sich in einem kalten, verwinkelten Betongehäuse irgendwo zwischen Rohbau und Abbruch eingenistet hat, bevölkert von allerlei Statisterie von Obdachlosen bis Bodyguards.
Ausgewogene szenische und musikalische Kräfte brachten der virtuose Matthias Rexroth (als treuer Unulfo) und die stimmlich wendige Malena Ernman als ewig unglücklich-enttäuschte Eduige ein. Konstantin Wolff hat den stärksten Auftritt im ersten Akt, wenn sein Garibaldo beim Sex mit Eduige im inneren Monolog in Gestalt einer Arie erklärt, Eros sei ihm nur recht als Mittel, Macht zu erlangen.
Eine schöne Idee, den scheinbar gestrichenen Schlusschor als Zugabe nachzuliefern, wobei Nikolaus Harnoncourt von der Rampe aus dirigiert: wunderbar, die aus seinen Augen geschleuderten Blitze einmal frontal zu sehen.
Oberösterreichische Nachrichten
In filmisch-schnelle Szenenwechsel aufgelöst, erhält das Verwirrspiel eine bemerkenswerte Stringenz, die sich auch mit der Entscheidung deckt, die Figuren in zeitlose Kleidung zu stecken. Gepaart ist das Ganze mit fein dosiertem Humor.