PRESSE
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Johannes-Passion (1784) von Carl Philipp Emanuel Bach, Deutsches National Theater Weimar
DIE deutsche BÜHNE, 26.5.2017 (Ute Grundmann)
Ein Kirchenmusikwerk, das absolut tauglich für die Theaterbühne ist. Das ist die erste Erkenntnis aus dieser ungewöhnlichen Premiere. Die zweite: Eine Passionsgeschichte, die so klar, frisch und intensiv klingt, als sei sie gerade erst entstanden. Dabei wurde sie bislang nur einmal, 1784 in Hamburg, aufgeführt: Die „Johannes-Passion“ von Carl Philipp Emanuel Bach. Danach galt sie 230 Jahre lang als verschollen, ehe sie Kirill Karabits, seit Beginn dieser Saison GMD in Weimar, im Archiv wiederentdeckte. Nun hat er sie im Deutschen Nationaltheater auch dirigiert, Philipp Harnoncourt übernahm die Inszenierung und die Gestaltung der Bühne.
Schon diese Bühnenkonstellation ist ungewöhnlich: Das Streicherensemble der Staatskapelle Weimar mit Kirill Karabits sitzt an der Rückwand erhöht, rechts vorne auf der Bühne sind Barockcello (Astrid Müller) und eine kleine Orgel (Holger Reinhardt) postiert. Daneben ist eine lange (Abendmahls-)Tafel aufgebaut, mit zusammengewürfelten Stühlen und Bänken, Obst und Blumen. Viele Menschen sitzen schon dort, einige Nachzügler schlendern herein, begrüßen sich, erzählen vom Urlaub, eine hat Hunger auf Süßes, eine andere auf Thüringer Klöße, eine dritte hat eine Iranerin als neue Nachbarin. Alltagsgeplauder, aus dem sich dann zum ersten Mal der mächtige und zugleich helle und schwebende Chor erhebt, mit den ersten Worten dieses Werkes: „Rat, Kraft und Friedensfürst und Held!“.
Den Textdichter kennt man bis heute nicht, weiß aber, dass dies eine von mehr als zwanzig Passionsmusiken des auch „Hamburger Bach“ genannten Komponisten ist. Danach war diese „Johannes-Passion“ verschollen, erst als 1999 das Archiv der Berliner Singakademie im Kiewer Staatsarchiv wiederentdeckt wurde, tauchte auch sie wieder auf. Der in der Ukraine geborene Kirill Karabits fand es dort bei der Forschung nach Alter Musik, setzte es selbst in ein modernes Notenbild um, den Sütterlin-Text ließ er von einer älteren Dame transkribieren. Und er brachte die Komposition des in Weimar geborenen, zweitältesten Bach-Sohnes eben dort zur quasi Wieder-Uraufführung.
Unter den vielen Konzerten, Aufführungen und Projekten zum Reformationsjubiläum ist dies sicher eine der ungewöhnlichsten. Philipp Harnoncourt entwickelt die Passionsgeschichte aus der Gruppensituation des Anfangs: Chorsänger, Solisten und Musiker tragen heutige Alltagskleidung. Es könnte eine Versammlung in einer Kirche sein, vielleicht beim „Kirchentag auf dem Weg“, wie er gerade auch in Weimar stattfand oder auch eine Gruppe Geflüchteter. Sie erzählen eine, ihre Passion und suchen darin nach Selbstvergewisserung. Der Evangelist ist zugleich Erzähler und Verkünder, Chronist und Gläubiger, Thaisen Rusch verkörpert ihn mit vielen Nuancen sehr eindrucksvoll. In einer „Art selbstauferlegtem Bilderverbot“ (Harnoncourt) gibt es nicht eine Jesusfigur, sondern deren vier (Oliver Luhn, Yong Jae Moon, Chang-Hoon Lee, Chong Ken Kim). Wie auch die anderen Solisten lösen sie sich aus dem Chor und kehren wieder in ihn zurück. Dazu der wunderbare, vielgestaltige Bass von Daeyoung Kim, die Sopranistin Emma Moore, Jens Schmiedecke als Petrus und Klaus Wegener als verschmitzt-mächtiger Pilatus.
Und natürlich der, von Mario El Fakih einstudierte, grandiose Chor: Mal heftig-drängend in einem vielstimmigen „Ich bin’s“, mal ganz behutsam und beseelt, dann wieder in Klang und Gestik wütend oder ironisch,
wenn sie behaupten „Wir haben keinen König“. Harnoncourt setzt in diesen dichten 70 Minuten immer wieder Akzente: Zum einen, wenn Jesus ein Sack über den Kopf gestülpt wird, auf seinem Rücken ein blutiger
Davidstern eingeritzt ist. Zum anderen eine Menora auf dem Tisch, das Kleiderzerreißen als jüdische Geste der Trauer, der Evangelist, der eine Art Gebetsschal trägt. Er ist es auch, der hinter dem Chor
ein ganz sachtes, schmerzendes „Es ist vollbracht“ hervorbringt. Diese „Johannes-Passion“ mit ihrem erzählenden, die Botschaft vermittelnden Text ist weniger lauthals jubilierend als gedämpft tröstend,
manches Halleluja des Chores klingt eher nachdenklich, das abschließende Kyrie schwingt weit aus. Es ist eine vielstimmige und vielschichtige Passionsgeschichte, eine lohnende Wiederentdeckung,
im Nationaltheater lange bejubelt.
BERICHT EINES ZUSEHERS, der mir von Thaisen, dem Sänger des Evangelisten zugeschickt wurde
Meine persönlichen Gedanken und Eindrücke zur „Johannes-Passion“ in Weimar am 18.3.2018
Noch nie hatte ich so viel Emotionen, Gefühle in meinem Körper vereint wie in der Stunde „Johannes Passion“.
Am Anfang, beim Auftritt des Chores, war eine lockere Fröhlichkeit in mir. Doch schon bald wich dieser Eindruck starkem Herzklopfen. Wut,Trauer,Betroffenheit und Freude wechselten sich ab. Meine Hände wurden feucht und die Beine fingen zu kribbeln an, als ob Ameisen rauf und runter liefen. Tränen bildeten sich in meinen Augen, am liebsten hätte ich losgeheult. Die Besucherin neben mir hat geweint! Beim Textteil zum Schluss wäre ich beinahe aufgesprungen und wollte meine erlebte Geschichte mit dem Tod eines lieben Menschen, meines Vaters, erzählen. Das Herzklopfen hörte selbst lange Zeit nach der Vorstellung nicht mehr auf. Ich wollte danach keine Menschen um mich haben, die vielleicht auch noch lachten und fröhlich waren und auch mit niemandem reden, selbst mit Thaisen nicht - nur allein sein und laufen! Ich spürte beim Warten am Bühneneingang keine Kälte, mein Körper war wohltuend warm. Erst beim Weg zum Hotel fing ich zu zittern an. Gott sei Dank kamen Thaisen und Daniel noch ins Hotel und wir konnten dann miteinander reden. Danke!!Am nächsten Tag lief ich suchend (aber was?) durch Weimar und besuchte den historischen Friedhof und die Fürstengruft, weiß aber nicht warum.
Ich dachte über vieles nach, auch über das am Vorabend Gesehene und Erlebte und ich wurde plötzlich ruhiger. Ich bin kein besonders christlicher Mensch und bin auch aus der Kirche ausgetreten, aber dieses Stück hat in mir längst Vergessenes aus meinem tiefsten Innerstem wieder zu Tage befördert. Ich werde zwar deshalb nicht wieder eintreten, glaube jedoch, dass sich meine Gedanken und Gefühle positiv verändert haben durch dieses für mich einmalige Erlebnis „Johannes Passion“. Mal schauen, was der Alltag bringt, wie lange dieses positive Gefühl in mir weiterlebt.Überhaupt war ich von dieser Aufführung sehr begeistert. Es ist schon erstaunlich, wie man dieses schwierige Thema einem sehr breiten Publikum (es waren alle Altersschichten im Publikum) so anschaulich und doch einfach, so eindringlich schmerzhaft und doch wieder anscheinend locker, begreiflich machen kann. Nach diesem grandiosen, erschütterndem „Finale“ war der Schlussapplaus zuerst sehr zögerlich und verhalten; es wollte keiner im Publikum diese Stimmung kaputtmachen. Doch dann brandete der Beifall zurecht auf für ein enorm tolles Ensemble (Chor, Solisten und Orchester ). Es ist auch erstaunlich: ich habe jedes Wort verstanden, was an anderen Häusern trotz Verstärkung der Stimme nicht der Fall ist. In Augsburg ist mir nicht aufgefallen, welch wundervolle, gefühlvolle Stimme Thaisen hat!
Schade, dass es die letzte Vorstellung war – ich hätte mir die Passion gerne nochmals angeschaut und gespürt! Jetzt beim Schreiben meiner Eindrücke erlebe ich diese Gefühlsschwankungen wieder! Ich kann mich für dieses wunderschöne Erlebnis nur bedanken. Dir Thaisen danke ich, dass Du mich für diese Aufführung sensibilisiert hast! Herzlichen Dank!Rainer
evangelisch.de, 19.6.2017 (Ralf Siepmann)
Die Johannes-Passion der Empfindsamkeit
Weimar erlebt nach einem Vierteljahrtausend die Wiederaufführung einer Komposition von Carl Philipp Emanuel Bach. Der geheimnisumwitterte Zufallsfund in einem für Jahrzehnte nach Kiew ausgelagerten Archiv lässt die Leidensgeschichte Jesu völlig neu erleben.
Geschichten von geheimnisvollen Funden in versteckten Höhlen gibt es viele. Diese aber ist tatsächlich geschehen. 2000 erfährt der aus Kiew stammende Musikstudent Kirill Karabits zufällig aus dem Fernsehen von der Existenz einer umfangreichen historischen Sammlung von Autographen, Abschriften von Partituren und seltenen Notendrucken. Es handelt sich dabei um das Archiv der Berliner Singakademie, das von dem Komponisten und Musikpädagogen Carl Friedrich Zelter angelegt worden war. Diese Sammlung von Musikdokumenten des 18. Jahrhunderts galt seit Ende des Zweiten Weltkriegs als verschollen: bis zum Jahr 1999. Da wird sie von Forschern der Harvard University in Kiew wiederentdeckt. 2001 kehrt das in 241 Kisten untergebrachte 250.000-Seiten-Archiv nach Berlin zurück, wo es in der Staatsbibliothek aufbewahrt und öffentlich zugänglich ist.
Unter den riesigen Schätzen, überwiegend Erstdrucke mit handschriftlichen Widmungen und Anmerkungen, liegt auch die Johannes-Passion von Carl Philipp Emanuel Bach (1714–1788). Die Collage aus eigenen und Bearbeitungen von Werken anderer Komponisten, in der Kirchenmusik Pasticcio genannt, schildert den Leidensweg Christi vom Abendmahl bis zur Kreuzigung und seinem Tod gemäß des Evangelisten Johannes. Die Komposition des zweitältesten Sohnes von Johann Sebastian Bach, der zur Entstehungszeit 1784 städtischer Musikdirektor und Kantor am Johanneum Hamburg war, erfährt damals nur eine Aufführung. Karabits entdeckt sie, als er im Bereich Alte Musik nach großen Werken von Graun bis Telemann sucht. Sofort erkennt er ihren musikalischen Rang und bringt sie jetzt als Beitrag zum Reformationsjubiläum in Weimar zur Wiederaufführung nach fast 250 Jahren.
In Weimar ist Karabits (39) seit September 2016 Generalmusikdirektor und Chefdirigent des Deutschen Nationaltheaters(link is external) und der Staatskapelle in Weimar. Die Komposition, erklärt er, sei keine beliebige Version unter den allein rund 20 Passionen, die Carl Philipp Emanuel Bach, dessen Lebenswerk mehrere hundert Werke umfasst, zugeschrieben werden. Karabits nennt sie exemplarisch für den deutschen "Stil der Empfindsamkeit", als dessen erster Repräsentant der Bach-Sohn gilt. "Dieser Stil", verdeutlicht er seine Ansicht, "ist nicht mehr reiner Barock, er weist vielmehr bereits in Richtung der Frühklassik. Bach probiert Experimentelles, zeigt neue musikalische Farben und Harmonien auf, komponiert praktisch wie für das Theater."
Passionsmusik ist "Identität stiftend"
Passionsmusik, die Vertonung des Leidensweges Christi nach Texten der Bibel, lässt sich bis weit in das Mittelalter zurückverfolgen. Liturgisch bleiben sie über Jahrhunderte auf den Nachmittagsgottesdienst in der Karwoche beschränkt. Im 17. und frühen 18. Jahrhundert entstehen Passions-Oratorien, die in Form von Arien und Rezitativen mit Orchesterbegleitung den Stellenwert des Textes nach dem Evangelium schmälern. Erst Johann Sebastian Bach kehrt mit seinen zwischen 1723 und 1729 entstandenen Passionen nach Johannes und Matthäus zum Kern der Evangelienworte zurück. Die "seriöse", nicht mehr bombastische Balance zwischen der dramaturgischen Bearbeitung der Bibelworte und den lyrischen Ausdrucksformen – Chorsätze, Choräle, Arien – wird so geschaffen.
In der evangelischen Kirchenmusik seit Luther sind die Passionen schlicht elementar. Johannes Pflüger, Kreiskantor des evangelischen Kirchenkreises Bonn, nennt sie "Identität stiftend". Jede neue Deutung, jede Innovation, jede musikarchäologische Ausgrabung sind daher für Kirchenmusiker und Kirchengemeinden von Bedeutung, erst recht anlässlich des Reformationsjubiläums.
In Weimar entschließen sich Karabits und der für Regie und Bühne bei diesem Projekt verantwortliche Philipp Harnoncourt, Sohn des Dirigenten und Musikforschers Nicolaus Harnoncourt, die Wiederentdeckung der Passion szenisch zu realisieren. Letztlich wie ein heutiges Theaterstück. Die Sängersolisten, der Opernchor des Hauses und Musiker der Staatskapelle Weimar agieren in einem Milieu der Gegenwart. Alltagskleidung dominiert, die Gespräche an einem Abendmahlstisch aus Allerweltsmaterialien drehen sich um Themen und Probleme von heute. Eine Johannes-Passion, ein Schlüsselwerk der Kirchenmusik des Protestantismus, inszeniert wie ein Stück für einen Theaterwettbewerb? Für Karabits, der schon in jungen Jahren als Chorleiter Kantaten von Bach dirigiert und für experimentelle Entwicklungen in der Alten Musik offen ist, kein Problem. Der auf den Ausdruck tiefster Gefühle ausgelegte Stil Bachs, findet der Weimarer Generalmusikdirektor Karabits, lege es geradezu nahe, das Stück als "narrative Leidensgeschichte Jesu" zu zeigen.